Henrik Schrat, Berlin

Naumburger Kernfusion

 … hier geht es zum Künstler – bitte  Bild anklicken! (sign_2015: Kernfusion)

   Fotos: Sebastian Weise

 

Quellgeschichte zur Naumburger Kernfusion.
Die folgende Historie stellt die Grundlage und den erzählerischen Kern des Projektes „Die Naumburger Kernfusion“ dar.

Im kalten Januar des Jahres 1356 hatte der Kantor der alten Stadtkirche zu Naumburg, Fredericus Fragenhold, einen Traum. Als er am nächsten Morgen, im Nachtrock und frierend, versuchte seinen dafür zu langen Namen in den Schnee zu pinkeln, erinnerte er sich daran. Er befand ihn für so merkwürdig, dass er mit dem Vorsteher der Domschule darüber sprechen wollte. Dieser, Caspar Melhorn mit Namen, war ein väterlicher Freund der ihm oft mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte.
In Fragenholds Traum war um Kirschen gegangen. Die Römer hatten bekanntlich vor vielen hundert Jahren die Frucht in die Gegend gebracht, und sie erfreute sich großer Beliebtheit obwohl man die Früchte nicht lagern konnte und sie klein waren wie Bonbons. Im Vergleich zu Äpfeln, die ein veritables Nahrungsmittel darstellten oder Pflaumen, die man trocknen konnte machten Kirschen viel Arbeit bei der Ernte und gaben wenig her. Die kleinen harten Kerne eigneten sich nur zum Vergnügen der Kinder, sie wurden geschnipst und gespuckt oder in das Katapult geladen. Kirschbäume gab es aber um Naumburg viele, es galt als ein Vergnügen und zeigte Wohlstand einen zu besitzen.
In dem Traum befand sich Fragenhold in einer Art Kirschhain, es war des Nachts und ein merkwürdiges Licht lag auf den Hügeln. Es stammte von kleinen Laternen, die überall in den Bäumen hingen, die sich aber bei näherem besehen als Kirschen herausstellten, kleine, leuchtende Kirschen, die gar merkwürdige Formen hatten. Obwohl diese kleinen Lichter ein erquicklicher Anblick waren, fühlte sich Fredericus Fragenhold nicht wohl in dem Traum, und etwas Unheimliches lag über der Szene. Es näherten sich langsam Kinder, die zu den Kirschen aufsahen, und Fragenhold kletterte auf einen Baum und versteckte sich dort.
Unten sammelten sich immer mehr Kinder, sie liefen aufgeregt hin und her, zerlumpte und wohlangezogene. Es gelang ihnen nicht auf die Bäume zu kommen, so begannen die Mäuler aufzusperren, als ob die Sternkirschen in sie hineinfallen sollten. Und wirklich, eine erste Kirsche fiel, und dann noch eine. Aber sie fielen nicht etwa hinunter, sondern schwebten herum, wie Glühwürmchen. Immer mehr Kirschen lösten sich, und trieben in der Luft herum. Die aufgesperrten Mäuler, die wie die von jungen Spatzen im Nest nach oben zeigten, gingen leer aus. Zu allem Übel umschwebten die Kirschen auch ihn und beleuchteten ihn, so dass die Kinder sich um seinen Baum sammelten.
Sie sahen ihn erwartungsvoll an, genau wie in dem Moment, wenn er den Taktstock hob um den Knabenchor zu dirigieren. Das Fleisch fiel von den schwebenden Kirschen ab, und zerfiel zischend zu Staub und nur die Kerne blieben in der Luft. Die Kinder waren leer ausgegangen. Sie murrten, aber schauten den Kernen zu, die sich zu einer Wolke zusammengefügt hatten. Dieser Schwarm von Kirschkernen nahm bald diese und bald jene Form an, es war als bemühte er sich etwas zu sagen, aber konnte es nur undeutlich tun. Bald glaubte Fragenhold ein Gesicht zu erkennen, dann schien es ihm sein Elternhaus zu sein dass der Krieg zerstört hatte. Sich immer neu formend wie ein Bienenschwarm entfernten sich die Kerne, und die Kinder zogen mit ihm und verloren sich in der Ferne. Fragenhold erwachte.
Dem Kantor schien, dass der Traum ihm etwas sagen wollte. Die Kinder, die Kirschen, der Schwarm an Kernen, es fügte sich nicht zu einer Geschichte aber schien zusammenzuhängen.
Im Gespräch mit Caspar Melhorn glaubte er den Traum zu verstehen. Die Kinder waren wohl das kommende, die Kerne bargen ebenfalls die Zukunft in sich. Aber als Schwarm formten sie wohl die Vergangenheit, wenn auch undeutlich, so wie Erinnerungen verblassen. Der Kernschwarm gab dem Vergangenen eine vage Gestalt, für Augenblicke.
In den leuchtenden Kirschen endlich schien sich der jetzige Augenblick zu verdeutlichen, aufleuchten und Verglühen, an dem die Kinder aber nicht teilhatten. Der erwartungsvolle Blick der Kinder ging Fragenhold nicht mehr aus dem Sinn.
Der Traum schien den beiden ein Fingerzeig zu sein. Fragenhold mochte Kinder, und da der Kirschgarten der Kirche in seiner Obhut stand, entschied er, die Kirschen darin den Kindern zu überlassen. Als eine Gabe, ein fröhliches Geschenk dafür, dass die Zukunft auf ihnen ruhte.
Caspar Melhorn war der Vorstand der Domschule und so kamen sie überein, den Kindern dafür einen Tag freizugeben. Die Kinder sollten die Früchte selbst ernten, aber durften davon verzehren so viel sie wollten. Und so geschah es, dass am Freitag, dem 24. Juni 1356 die Kinder der Domschule zu Naumburg die Kirschgärten der alten Stadtkirche plündern durften. Und das, obwohl die Stadt und der Dom so oft verfeindet waren.
Daraus entwickelte sich die Tradition des Kirschenessens, ein Fest, dem die Mütter dank der Wirkung der Kirschen auf die Verdauung mit gemischten Gefühlen entgegensahen, das aber bei den Kindern umso beliebter war.
Es war dem Fredericus Fragenhold und dem Caspar Melhorn jedoch billig erschienen, den Mädeln und Knaben die Gabe mit Nachdruck auch in ihrer Bedeutung deutlich zu machen.
So hatten Fragenhold die Idee, sich die Kerne wieder bringen zu lassen, denn auch dieser Teil des Traumes schien ihm bedeutsam.
Melhorn wollte sie in einer Kiste bewahren, gleichsam als Schatz, der anstatt Golddukaten die Kirschkerne der Kinder zu Naumburg enthielt.
Hin und wieder ließ er die Kirschkerne durch seine Finger rinnen, aber Kirschkerne sind keine Bauklötze, mit denen die Kinder Häuser formten, man konnte sie nicht auftürmen, sie zerflossen wieder.
Erst als er beim Tischlermeister Veit in der Wenzelsgasse stand und zusah, wie dieser ein altes Fenster der Kantorei neu verfugte, kam ihm die Idee. Veit hatte sich eine Portion Sägespäne genommen, und diese mit Knochenleim zu einer Masse gerührt, die er in die Löcher drückte und später fein verschliff. Natürlich, durchfuhr es Fragenhold, so könnte man auch einem Schwarm an Kernen eine Gestalt verleihen, und man könnte ihn sogar wieder auflösen, wenn man den Schwarm in heißes Wasser tauchte, und der Knochenleim sich wieder löst.
Immer, wenn er im folgenden Winter saß, und mit Kirschkernen versuchte sein Elternhaus nachzubauen musste er schmunzeln. Die Kinder hatten schon lang das neue Spiel ihres Vaters entdeckt, und begannen selbst mit klebrigen Fingern Kirschkerne zu immer größeren Gebilden zu verkleben.
Zum nächsten Kirschenessen zeigte Fragenhold ein schönes Häuschen vor, und alsbald begannen die Mädchen und Jungen die Kerne, die sie zurückbrachten selbst in kleine Häuser zu verkleben. Im nächsten Jahr wurden sie wieder eingeschmolzen, und neue Gebilde entstanden. Das Kernschwärmen, wie es bald genannt wurde, wurde zur Gewohnheit, man traf sich abends im großen Hof des Tischlers Veit in der Wenzelsgasse und ließ die Kirschkerne ihre Form annehmen. Im Laufe der Jahre nahm die Menge der Kerne natürlich zu, und ganze Städte bildeten sich, die dann für ein Jahr standen, bevor sie wieder eingeschmolzen wurden. Schließlich begann man den schönsten Bau zu küren, es muss etwa 10 Jahre nach Fragenholds Traum gewesen sein, wie berichtet in der Chronik des Benedictus Taube von 1540.
Die Geschichte nahm eine ungeahnte Wendung, als 1432 die Hussiten vor Naumburg standen. Sie trafen dort auf die reichlichen Kirschgärten vor der Stadt. Die Kirsche war in Böhmen ein noch seltenes Gut zu dieser Zeit. Also begann der Heerhaufen, von dem es heißt, er habe die 100 000 leicht überstiegen, auf die Bäume zu klettern, und Kirschen zu essen. Kernobst hat Folgen, sagt der Volksmund, und so kam es ans Scheißen und Furzen, dass nicht nur den Hussiten die Sinne vergingen.
Derartig gingen die Winde im Hussitenlager, dass ein Geruch über der Vogelwiese lag, der dem Hund des Feldherren Prokop den Garaus gemacht haben soll.
Als daraufhin in der allseits bekannten Geschichte die Kinder in den Sterbehemdchen um Gnade baten, überließ ihnen Prokop die Reste der gepflückten Kirschen leichten Herzens, und zog mit seiner furzenden Schar Soldaten von dannen.
Das Kirschfest wurde über die Jahrhunderte gefeiert, und hat viele Gesichter gehabt. Das Schwärmen der Kirschkerne aber hat sich verloren.-.

Diese Geschichte ist im Wort und als Schattenrissgeländer im Architektur- und Umwelthaus in 06618 Naumburg, Wenzelsgasse 9 vom Künstler Henrik Schrat geschaffen.

 

 

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